Herr Bauer, wie stehen Sie zum Begriff „Laptop-Trainer“, der jahrelang eher abschätzig benutzt wurde?
PASCAL BAUER: Kommende Trainergenerationen sind mit Smartphone und Laptop groß geworden. Entsprechend wächst die Affinität. Das ist ein natürlicher Prozess, den wir in allen Bereichen beobachten.
Beispielsweise bei Videoanalysen kommen Trainer und Spieler zwangsläufig mit dem Laptop in Kontakt. Welchen Einfluss hat die Künstliche Intelligenz (KI) dabei? Welchen Einfluss hat die Künstliche Intelligenz (KI) dabei?
BAUER: Der KI-Hype hält sich im Fußball noch in Grenzen. Die Datenerhebung schritt bereits vor ChatGPT unaufhaltsam voran, pro WM-Spiel werden mehr als 500 Millionen Datenpunkte erfasst. Der Begriff „KI“ ist nicht immer klar abgrenzbar, der aktuelle Trend bezieht sich viel auf den Umgang mit Text und Sprache – das hilft im Fußball nur begrenzt.
Dennoch gibt es KI-ähnliche Systeme, die dabei helfen, die Datenflut zu analysieren.
BAUER: Die Verfügbarkeit von Daten ist kaum noch ein Problem. Wir können aktuell nur einen Bruchteil der 500 Mio. Datenpunkte in echte Mehrwerte übersetzen. Um das volle Potenzial auszuschöpfen, benötigen wir noch ein paar Jahre.
Von welchen Datensätzen sprechen wir?
BAUER: Theoretisch hat man unzählige Daten der Spieler zur Verfügung, nicht nur in der digitalen Nachbildung des Spiels. Es gibt Daten über die Verletztenhistorie oder per GPS-Gurte über das Training. Mancher Klub misst sogar den Schlaf. Aufschlussreich ist auch die Leistungsdiagnostik in den Nachwuchsleistungszentren oder im DFB-Fördersystem.
Wer erfasst die Daten? Mensch oder Maschine?
BAUER: Von den 500 Mio. Datenpunkten eines WM-Spiels erfasst ungefähr 10.000 Datenpunkte der Mensch. Das sind Operatoren, die Bereiche abdecken, die eine KI oder Technologie noch nicht erfassen kann. Komplexere Muster wie ein Tiefenlauf beispielsweise, werden meistens händisch erfasst.
Datenanalyst Bauer: „Wollen den Charme des Fußballs behalten“
Die Bundesliga vertraut künftig der halbautomatischen Abseitserkennung. Das Ende aller Diskussionen?
BAUER: Diese automatisierte Abseitserkennung resultiert aus neuen Daten, die man vor fünf Jahren nicht hatte. Aber alle Trackingsysteme oder semiautomatisierten Systeme haben Messfehler. Diese sind deutlich geringer als die des menschlichen Auges oder des Schiedsrichters. Deswegen macht das alles Sinn. Aber Diskussionen werden sich – hoffentlich – nie erledigen.
Sie hoffen, dass sich die Diskussionen nie erledigen werden?
BAUER: Wir wollen ja den Charme des Fußballs behalten. Ich würde mir eher wünschen, dass die Abseitstechnologie so schnell eingreift, dass 40 Sekunden später kein falsches Tor bejubelt wird.
Kann die KI irgendwann den Video Assistant Referee (VAR) und das menschliche Auge ersetzen?
BAUER: Ersetzen wird man keinen Menschen, weder Schiedsrichter noch Trainer oder Spieler. Die technologischen Möglichkeiten haben aber ungemein viel Potenzial, sie zu unterstützen. Man muss sich immer die Frage stellen: Was will ich dann wirklich integrieren und nutzen? Wo will ich den Menschen mit seinem Gefühl für das Nicht-Messbare und mit seinen Macken entscheiden lassen?
Etwa ein Drittel aller Treffer entspringen im weitesten Sinne Standardsituationen. Zugleich sind sie sehr gut messbar. Wie viel Einfluss nimmt hier die KI?
BAUER: Manche Sportart, Baseball beispielsweise, ist eine Aneinanderreihung von Standardsituationen. Immer Start-Stopp. Auch Tennis beruht auf diesem Prinzip. Diese Logik ermöglicht detaillierte Analysen, was das Beste ist. Im Fußball, mit seinem höheren Komplexitätsgrad, ist das schwierig. Aber bei Standards gibt es Methoden, die man aus dem Tennis auf Eckstöße oder Einwürfe übertragen kann.
In Kürze öffnet das Transferfenster. Welche Bedeutung hat KI im Scouting?
BAUER: Im Baseball war die „Moneyball“-Geschichte einst der Auslöser (Ein Baseballklub mit geringem Budget stellte ein Team nur anhand von Statistiken zusammen und hatte Erfolg, d. R.). Im amerikanischen Baseball kommt dazu, dass es keinen freien Spielermarkt gibt, sondern ein Draft-System. Seit Moneyball läuft das Scouting überwiegend über Daten. Mittlerweile sind 20 Data Scientists und Data Engineers, also KI Experten, involviert. Immer mehr Investoren, Personen und Klubs investieren, um Moneyball auf den Fußball zu übertragen. Fußball steht dort, wo Baseball vor 20 Jahren war. Das Potenzial ist da, insbesondere, da im freien Transfermarkt Unsummen für Spieler ausgegeben werden.
Wie stehen Sie dazu?
BAUER: Ich glaube, dass Daten im Scouting unterstützen können. Ein durchschnittlicher Bundesligaklub hat einen riesen Pool an Spielern, die er verpflichten kann. Wenn es darum geht, gleichzeitig 5000 Spieler zu beobachten, kommt ein Scouting-Team schnell an Grenzen. Hinzukommen menschliche Subjektivität und Wahrnehmungsverzerrung. Sieht man im Video jetzt zwei gute oder zwei schlechte Spiele? Will ich eine Vorauswahl oder einen finalen Check? Ich kenne kaum Klubs, die hier gar keine Daten nutzen.
Kann man den perfekten Spieler über KI und Big Data finden?
BAUER: Um die besten fünf Spieler der Welt zu finden, brauche ich keine KI. Daten helfen, eine Alternative für den halben oder ein Viertel des Preises zu bekommen. Und: Eigentlich will ich ja nicht wissen, wer ist jetzt der beste Spieler der Welt, sondern in sieben, acht Jahren. Hierbei liefern Daten eine ganzheitliche Betrachtung.
Sollte ein Trainer sein Team nach Wahrscheinlichkeiten aufstellen?
BAUER: KI unterstützt den Scouting-Prozess, aber die menschliche Komponente bleibt wichtig. Wenn der Trainer seine 25 Spieler täglich auf dem Platz sieht, weiß er, in welcher Konstellation das Team zusammenpasst. Trotzdem können Daten Einschätzung und Bauchgefühl des Trainers bestärken.
Der Gedanke liegt nahe, KI während des Spiels einzusetzen und Coachingtipps zu geben.
BAUER: Im American Football, mit besagter Start-Stopp-Komponente, geben Daten eine klare Handlungsempfehlung ab (z. B. „Forth Down Bots“). Auch im Fußball gibt es Anwendungsgebiete. Ich glaube aber nicht, dass das der entscheidende Faktor ist. Ein Trainer weiß, wann jemand müde ist und wen er einwechseln muss. Hier erwarte ich keine große Revolution in den nächsten Jahren.
Fernab sämtlicher Daten und Berechnungen: Studien belegen, dass 40 Prozent der Tore auf Zufall basieren.
BAUER: Statistisch ist der Faktor Zufall während einer ganzen Saison relativ hoch. Wer in Summe eine sehr gute Saison spielt, kann am Ende trotzdem deutlich schlechter dastehen. Das bekannte Sprichwort „Die Tabelle lügt nicht“ kann ich statistisch nicht unterschreiben. Meine Hypothese wäre: Die Tabelle lügt. Über eine Saison gleichen sich Pech, Glück und Zufall aus. In einem einzigen Spiel kann aber auch Saarbrücken im Pokal gegen den FC Bayern München gewinnen.
Der Fußball wird also nie komplett berechenbar sein.
BAUER: Definitiv nicht. Da brauchen wir uns keine Sorgen zu machen – glücklicherweise.
Eine letzte Frage. WM-Finale, 85. Minute, Einwechslung. Wem vertrauen Sie mehr: den Daten oder Ihrem Bauchgefühl?
BAUER: Ich würde versuchen, eine Mischung zu finden. Trotz KI und 500 Mio. Datenpunkten sind wir noch nicht in der Lage, Antworten auf alle Fragestellungen zu liefern. Als ehemaliger Amateurtrainer hätte ich noch eine klare Tendenz zum Bauchgefühl.
Zur Person
Pascal Bauer ist Juniorprofessor an der Universität des Saarlandes und leitet dort den Arbeitsbereich Sportinformatik. In dieser Funktion war er Referent beim jüngsten AI Convention der IHK Schwaben. Der Experte Sports Analytics ist zugleich seit Jahren für den Deutschen Fußball-Bund (DFB) in der Datenanalyse tätig.
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